Interdisziplinarität – Der Blick über den Tellerrand

Lange hatte ich von einer Regelung von Schweißverfahren geredet, als meine Freundin (eine Nicht-Maschinenbauerin) mich verwirrt unterbrach: „Das wird gesetzlich geregelt?“. Das verwirrte wiederum mich, denn ich hatte von einer elektronischen Regelung geredet. Ein klassischer Fall von einer Wissensblase. Wir stecken also in unserer Welt der Maschinen und wenn wir auf andere Disziplinen treffen, fällt uns die Kommunikation schwer. Besonders, wenn wir professionell mit Personen aus verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten. Interdisziplinären Austausch lernt man aber nicht vom einen Tag auf den anderen. Um das zu lernen und im Rahmen von spannenden Projekten auszuprobieren, bietet der Lehrstuhl für Ergonomie die Kurse „Interdisziplinäres Projekt X“ und „Interdisziplinäres Arbeiten“ an. Der Reisswolf hat sich mit Professor Bengler sowie den Organisatoren der Kurse Christian Lehsing und Lorenz Prasch zusammengesetzt und über die Bedeutung und die Umsetzung von Interdisziplinarität geredet. Außerdem haben Franziska Schmidt und Analena Aumüller von ihren Erfahrungen in den Seminaren berichtet.

Reisswolf: Meine erste große Frage: Warum ist Interdisziplinarität so wichtig?

Christian Lehsing: Sie spiegelt die Arbeitswelt wider, da man sehr häufig zusammenarbeiten muss, um das beste Ergebnis zu erzielen. Diese Zusammenarbeit ist aber nicht immer ganz einfach. Daher legen wir im geschützten Raum der Universität eine Spielwiese dar, um Interdisziplinarität vor dem Berufsleben an eigenen Themen oder an Themen vom Lehrstuhl auszuprobieren. Hier sind Fehler erlaubt und es ist nicht schlimm, wenn Kommunikation auch einmal gegen den Baum geht. So lernt man in den verschiedenen Phasen eines Projekts Interdisziplinarität kennen und schätzen und man wächst an den Herausforderungen. Zum Beispiel bedeutet das Wort Methode für den Informatiker etwas anderes und man wundert sich dann, warum man sich nicht versteht. Unser Ziel ist es, demgegenüber zu sensibilisieren, damit man mit offenen Augen die nächste Aufgabe angeht. Manchmal muss man Dinge eben gegenüber Teammitgliedern aus anderen Disziplinen noch einmal erklären, damit alle am gleichen Strang ziehen. 
Professor Bengler: Interdisziplinarität ist leichter gesagt als getan. Wir möchten den Studierenden aufzeigen, wie weit sie eigentlich von anderen Disziplinen entfernt sind. Solch ein Kulturschock hilft, um gegenüber anderen Disziplinen einen neuen Ansatz zu finden. Außerdem haben alle Disziplinen eigene Begriffe, Vorgehensweisen, Methodiken und Kriterien, die jede Person für ihren Fachbereich in ein interdisziplinäres Team mitbringt. Es muss in Zukunft nicht alles interdisziplinär sein, denn gerade Interdisziplinarität profitiert davon, wenn es disziplinäre Zentren gibt. Die Studierenden sollen sich ihrer eigenen Disziplin mit den dazugehörigen Fähigkeiten bewusst werden und diese anderen kommunizieren können. Wir möchten auch die damit einhergehende Verantwortung vermitteln. Wenn ich nun der einzige Maschinenbauer in einer Runde bin und ich entscheide etwas, dann hat das Gewicht und ist als Entscheidung im Team gültig.

Interdisziplinarität ist leichter gesagt als getan.

Reisswolf: Gibt es auch Probleme und Herausforderungen mit Interdisziplinarität?

Professor Bengler: Interdisziplinarität klingt erst einmal hervorragend und unverbindlich. Es ist aber kein Allheilmittel. Ich habe oft erlebt, dass Interdisziplinarität Dinge mittelmäßig werden lässt, wenn sie falsch eingesetzt wird und nicht zum Team passt. Die Frage ist, wie man mithilfe von Interdisziplinarität Spitzenleistungen erbringt und das Ergebnis nicht die minimale Übereinstimmung aller Teilnehmenden wird.
Christian Lehsing: Interdisziplinarität passt nicht überall. Vieles lässt sich hervorragend lösen, wenn man bei seiner Disziplin bleibt und so seine Fragestellung beantwortet. Eine Ausbildung in einem bestimmten Bereich ist dafür da, Probleme tiefgründiger und fundierter zu lösen. Es gibt ja nicht nur Interdisziplinarität, sondern auch Multi- und Transdisziplinarität. Das wird im Kurs „interdisziplinäres Arbeiten“ beleuchtet und der Unterschied herausgestellt. 
Franziska: Ich kann noch ergänzen, dass Interdisziplinarität auch nicht für jede Person geeignet ist. Man muss für das interdisziplinäre Arbeiten spezielle Fähigkeiten mitbringen und es muss einem auch Spaß machen. Daher haben wir gelernt, wie man diese Fähigkeiten trainieren und stärken kann und was man bei der Auswahl von Experten einer Disziplin für ein Team beachten sollte.

Reisswolf: Welches Potential bietet das interdisziplinäre Arbeiten?

Analena: Ohne Interdisziplinarität fokussiert man sich zu sehr auf die eigene Sichtweise. Am Ende des Tages hätte das Produkt viel besser sein können, wenn mehrere Disziplinen zusammengearbeitet hätten. Personen mit verschiedenen Hintergründen bringen so viele unterschiedliche Ideen mit, an die man selbst überhaupt nicht gedacht hat. Im Berufsleben ist es aber auch herausfordernd, eine gemeinsame Basis zu finden. 
Franziska: Es ist schwierig, sich ein gemeinsames Ziel beziehungsweise eine gemeinsame Zieldefinition zu schaffen, von der alle das gleiche Verständnis haben. Dafür braucht man eine geeignete Sprache, die alle verstehen. Im Seminar wurde viel Wert auf klare Kommunikation gelegt und deshalb haben wir als erstes die Methoden und Fachbegriffe unserer Disziplinen vorgestellt. Im zweiten Schritt haben wir gelernt, wie man mit Unwissen oder Missverständnissen umgeht und welche Vorurteile man gegenüber einer Disziplin hat, die nicht unbedingt auf die Expertenvertreter im Team zutreffen müssen.

Reisswolf: Was kann man sich den grundsätzlich unter dem Interdisziplinäres Projekt X (IDPX) vorstellen? 

Lorenz Prasch: Das interdisziplinäre Projekt X ist im Maschinenwesen als Forschungspraktikum angesiedelt, äquivalent zur Semesterarbeit. Wir möchten dabei das Arbeiten mit kreativen Prozessen und kreatives Projektmanagement an Teilnehmer aus verschiedensten Fakultäten z.B. MSE, Architekten, Industriedesign, Informatik, Maschinenwesen vermitteln. Ein Leitmotiv, also eine grobe soziale Fragestellung, rahmt den Kurs ein und zu diesem Thema arbeiten Fünfergruppen ihre Projekte aus. Im letzten Wintersemester hatten wir beispielsweise das Thema „Arbeit der Zukunft“ in Kombination mit Gleichberechtigung: Wie können wir gleiche Chancen und Gelegenheiten für alle in der Arbeit der Zukunft schaffen? Die Antwort auf die Frage durch die Projektarbeiten der Gruppen waren zum Beispiel etwas ähnliches wie Airbnb für Home-Office, oder ein Konzept, wie man Männer für Elternzeit motiviert. Durch den gesamten Entwicklungsprozess gibt es vier Iterationen. Nach jeder dieser Milestones gibt es eine Präsentation, zu dem das Team Feedback gibt.  Die Studierenden sind in der Regel sehr für dieses Projekt motiviert, aber man muss ihnen erst einmal klarmachen, dass frei gedacht werden darf.

Professor Bengler: Zusätzlich ist mir immer noch die Erkenntnis wichtig, dass es ein professionelles Vorgehen gibt. Kreatives Engineering, aber auch Human-centered Engineering ist eine Disziplin, die man erlernen kann und die alles andere als nur rumprobieren ist. Eine weitere, enorm wichtige Kompetenz ist die Sprech- und Kommunikationsfähigkeit. Die wirklich starken Ergebnisse profitieren von interdisziplinären Beiträgen. Verschiedenen Menschen müssen produktiv miteinander kommunizieren und sich zur selben Idee austauschen können. Im Negativen muss man lernen konstruktives kritisches Feedback zu geben und zu empfangen, ansonsten leidet die Qualität. Das Zusammenwirken von Engineering und Kreativität, und zwar ganz klar unter Zeit- und Leistungsdruck, ohne dabei die Gruppendynamik außer Acht zulassen, ist bei diesem Projekt für mich eine zentrale Kompetenz. 

Kurz und knapp

Interdisziplinäres Arbeiten: 

  • Lehrveranstaltung  
  • 6 ECTS, 3 SWS 
  • Prüfungsleistung: zwei Referate 
  • Turnus: WiSe und SoSe 
  • Deutsch 

Interdisziplinäres Projekt X: 

  • idpx.lfe.mw.tum.de 
  • 11 ECTS 
  • Prüfungsleistung: Projektarbeit 
  • Turnus: WiSe und SoSe 
  • Englisch 

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