Der Mensch hat kein Sinnesorgan, das Strahlung fühlen kann. Strahlung ist unsichtbar, sie hat keinen Geruch. Der geräuschlose Tod. Bericht von einem Abenteuer in die Sperrzone von Tschernobyl.
Nach einer kurzen Fahrt mit der Kiewer Metro, die ihren alten Sowjet-Charme noch nicht verloren hat, kommen wir am Hauptbahnhof an. Dort ist der Treffpunkt für unsere Tour. Im Minibus bekommen wir eine Minizeitung zum Lesen, in dieser wird der „Unfall“ vom 26. April 1986 nochmals beschrieben. So sollte in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl ein vollständiger Stromausfall simuliert werden. Damit wollte man beweisen, dass selbst nach einer stromausfallbedingten Reaktorabschaltung die Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen ausreicht, um die Zeit bis zum Einschalten der Notstromaggregate zu überbrücken.
Zwei Stunden bewegen wir uns in einem Bus Stück für Stück der Sperrzone entgegen. Der Bus bleibt stehen. Wir sind nun am Dytjatky-Checkpoint. Als ob sich Strahlung von einer Zonengrenze aufhalten lässt. Vier grimmige Soldaten der ukrainischen Miliz kontrollieren unsere Pässe und Eintrittsgenehmigungen. Wenn schon die Strahlung unbefugte Personen bei der Einreise hindern. Spätestens da legt sich ein erster dunkler Schatten auf die lustige Abenteurerstimmung.
Wir sind nun offiziell in der Sperrzone. Davon gibt es zwei: die rote 10km- und die gelbe 20km-Zone. In der 20km-Zone darf man wieder wohnen, sofern man älter als 18 ist. Neben Touristen, die hier übernachten, wohnen hier ehemalige Einwohner und Arbeiter, die sich um den Reaktor und den neuen Sarkophag kümmern.
Kurz nach Mitternacht am 26. April fällt die Reaktorleistung immer tiefer, zuerst unter die angepeilten 700 MW, dann noch weiter bis unter 200 MW. Auch der Wasserstand in den Wasserabscheidern (#thermoliebe) befindet sich auf einem bedrohlich niedrigen Niveau. Dies wird ignoriert, denn dieses Problem ist bei geringer Reaktorleistung jedoch bekannt. Um 00:38 Uhr wird vom leitenden Ingenieur eine folgenschwere Entscheidung getroffen. Da die Reaktorleistung auf fast null gefallen ist, werden alle Steuerstäbe aus dem Reaktor gezogen. Schnell steigt wieder die Reaktorleistung, jedoch ist sie bei 200 MW weit von den geforderten 700 MW entfernt. Zwei Pumpen werden zugeschaltet, die aufgrund des damit verbundenen erhöhten Kühlmitteldurchsatzes den Dampfblasengehalt verringern. Nun beginnt der eigentliche Test.
Die Turbinen werden von der Dampfzufuhr abgeschnitten, die Hitze im Reaktor steigt an und dieselbetriebene Notstromaggregate springen an, das dauert jedoch 40 Sekunden. Diese Zeitspanne sollte eigentlich durch den Nachlauf der Turbinen überbrückt werden. Dampf bildet sich, der Druck steigt schlagartig an und damit auch die Leistung der Brennstäbe. Schließlich wird die Notabschaltung der Brennstäbe betätigt, die Steuerstäbe werden wieder in den Reaktor eingefahren. Doch dabei wurde ein elementares Konstruktionsmerkmal des Kraftwerks zum Verhängnis: im Gegensatz zum Rest des Steuerstabes bestehen die Spitzen nicht aus Bor, sondern aus Graphit, das die Kettenreaktion anstatt zu bremsen sogar beschleunigt! Innerhalb von Sekunden kommt es zu einem hundertfachen Leistungsanstieg. Mehrere Brennstäbe zerbrechen und blockieren die einfahrenden Steuerstäbe. Druckrohre bersten, das Kühlwasser verdampft schlagartig, zwei Explosionen erfolgen kurz nacheinander, das Dach des Reaktors wird weggesprengt. Luft dringt in den Reaktor, das Graphit entzündet sich. Der aufsteigende Dampf reißt große Mengen an radioaktivem Staub mit sich.
Unser erster Halt ist das gemauerte Ortsschild von Tschernobyl. Wir bekommen Geigerzähler ausgeteilt. Der für dem Körper akzeptable Wert ist 0,30 μSv/h. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich die Strahlung mit 0,14 μSv/h messen, angenehm niedrig.
Die löchrige Straße zwingt den Fahrer, in Schlangenlinien und oft im Schritttempo zu fahren. Mehr Zeit, um sich die Umgebung anzusehen. Einige Häuser säumen die Verkehrswege, manche verlassen, manche noch in Verwendung. Die Landschaft wechselt zwischen kargen, längst aufgegebene Feldern und dichtem Wald ab. Plötzlich taucht ein hoher Turm mit goldener Spitze auf. Wir sind an der St.-Elijah-Kirche angelangt. Hellblaue Farbakzente auf den weißen Wänden laden uns ein, die orthodoxe Kirche näher zu besichtigen. Daneben blüht ein Fruchtgarten; Trauben und Apfelbäume reifen in der Spätsommersonne. Hier könnte man auch Ferien machen, denke ich mir. Es ist wie im Paradies, und zwar auf makabre Art. Denn die lockenden Früchte an den Obstbäumen sind die verbotenen Äpfel, verstrahlt und lebensgefährlich – essen strengstens verboten.
Doch mit der Idylle ist es schnell vorbei. To Those who Saved the World lesen wir auf der Tafel einer eindrucksvollen Gedenkstätte. Sieben Feuerwehrmänner mit Schläuchen und Schaufeln kämpfen gegen die Flammen. Einer sitzt auf einem Stein und hält sich den Kopf. In der Mitte symbolhaft verbogene Metallstäbe. Sie waren die großen Verlierer im Kampf gegen die Reaktorkatastrophe. Gekommen, um zu helfen, mussten sie die größte Strahlendosis ertragen. Sie eilten zum Reaktor, um die Flammen zu löschen – ohne Schutzkleidung. Uns wird wieder bewusst, was das Gefährlichste der Strahlung ist. Man spürt sie nicht, man bemerkt nicht, wenn man ihr ausgesetzt ist. Die Feuerwehrmänner liefen nichtsahnend ins Strahlungsfeuer und wurden innerlich verbrannt. Sie merkten es erst, als es zu spät war. Alle starben spätestens 28 Tage später. Offizielle sowjetische Opferzahlen gaben nur 31 Tote an, in Wahrheit waren es Tausende.
Wir finden weitere Gedenkstätten im Dorfzentrum Tschernobyls. Ortsschilder der evakuierten Städte und Dörfer stehen aufgereiht; das Ende der langen Reihe lässt sich kaum erkennen. Es dürften mehr als 200 sein. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Faszination. Doch menschliche Bedürfnisse melden sich auch. Pünktlich zur Mittagsessenszeit bekommen wir Hunger. Eine gute Gelegenheit, meine Mitreisenden etwas kennenzulernen. Unsere Gruppe ist sehr international zusammengewürfelt mit Australiern, Finnen, Belgiern, Spaniern und Briten. Auf dem Parkplatz stehen Kombis mit deutschem Kennzeichen, Salzgitter. Eine Gruppe von Technikern des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz, die hier Messübungen durchführen, ist auch unterwegs. Strahlen zu messen gibt es hier ja genug.
Vor den Autos liegen einige herrenlose, aber gesunde Hunde, die sich sehr gern streicheln lassen. Eins haben sie alles gemeinsam, eine Markierung im Ohr, die auf ihre Kastrierung hinweist – damit sich eine mögliche Mutation nicht fortpflanzt. Ich fühle mich wie in einem dieser Filme, bei denen eine schöne Landschaft gezeigt wird und man als Zuschauer genau fühlt, dass irgendetwas nicht stimmt. Denn egal, wo man hinschaut, der erste Blick zeigt Idylle. Doch auf den zweiten Blick findet man kleine, unscheinbare Indizien einer der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
ГАЗ Волга – Mini-Fahrbericht: Neben der Kantine hat unser Touranbieter einen Gaz Volga aus 1972 stehen, mit dem wir ein bisschen fahren dürfen. Weiß-grau lackiert sitzt das alte Gefährt auf Blattfedern. Die Handbremse ist nicht, wie man das heutzutage gewohnt ist, in der Mittelkonsole, sondern am Armaturenbrett. Um sie zu lösen, muss sie gedreht und nach vorne geschoben werden. Ich fühle mich wieder wie ein Fahrschüler, die Pedale fühlen sich sehr fremd an. Die Bremsen haben kaum Wirkung, zum Lenken wird viel Kraft benötigt. Immerhin hat der Motor einen angenehmen Klang, ungefiltert dringt er in die Fahrraum ein. Einmal fahre ich um den Block, dann sind die nächsten dran.
Nach dem 10km-Zonen- Checkpoint halten wir bei einem ehemaligen Sommerferienlager. Zwei Rehe huschen vorbei, sonst herrscht die Ruhe des Waldes, dort, wo einst Kinder tobten. Schief hängen die nun funktionslosen Türen neben fehlenden Wänden, die Fenster sind zerschlagen, die Dächer eingebrochen. Unweit vom Kindertheater rostet ein Wasserturm vor sich hin; der angelehnten Leiter fehlen die Sprossen. Viele Dörfer wurden nach der Katastrophe von den Behörden zerstört, um die Bevölkerung daran zu hindern, in das kontaminierte Gebiet zurückzukehren. Doch der Großteil der Verwüstung ist Plünderern geschuldet.
Ähnliche Szenen in einer Kindergartenruine: Kinderbetten ohne Matratzen, Löcher im morschen Boden, kaputte Babypuppen, denen alle möglichen Körperteile fehlen. Ich schrecke auf, hat sich dort im Schatten nicht etwas bewegt? Die Szene regt die Fantasie an. Eine postapokalyptische Dystopie, verlassene Siedlungen, verstrahlte Umwelt – für einen Horrorfilm die perfekte Kulisse. Doch erinnert uns lautstark an die strahlende Realität. Ist im Haus die Strahlung mit 0,3 μSv/h noch gering, so beschwert sich der Geigerzähler, sobald wir vor die Tür gehen: 3 μSv/h. In Bodennähe steigt sie sogar auf 8-9 μSv/h.
Wir nähern uns dem verhängnisvollen Kernkraftwerk und fahren beim Reaktor 5 und seinem Kühlturm vorbei, beide wurden nie fertiggestellt. In der Ferne schimmert schon der neue Sarkophag, ein riesiger, liegender Halbzylinder, neben ihm erstrecken sich die Reaktoren 1, 2 und 3. Doch davor müssen wir doch noch einmal halten: ein neugieriger Fuchs nähert sich dem Minivan und will gefüttert werden.
Nach dem Unglück im April 1986 drängte die Zeit. In mehreren Monaten baute man eine provisorische Konstruktion über den havarierten Reaktor – den Sarkophag. Dieser sollte verhindern, dass sich radioaktiv verschmutzte Partikel in der Luft verteilen. Das Provisorium blieb dann trotzdem 25 Jahre. Schon bald zeigte er erste Alterszeichen. Der Sarkophag wurde undicht, die Stahlträger rosteten, das Konstrukt drohte einzustürzen. Deshalb begann ab 2007 das Novarka-Konsortium (beteiligt sind die französischen Baufirmen Bouygues und Vinci), einen neuen Sarkophag zu bauen. In einigermaßen sicherer Distanz von Reaktor 4 wurde deshalb eine große, knapp 25.000 Tonnen schwere, 165 m lange und 110 m hohe Arche gebaut und 2016 innerhalb von zwei Wochen mittels hydraulischen Hebern wie eine Matrioschka über den alten Sarkophag geschoben. Dank ihm ist die Strahlung in der Nähe des Reaktors von 4 auf 1 μSv/h gesunken.
Wir dürfen bis zu 200 m nah an den Reaktor ran. Hier stehen hohe Mauern, die mit Stacheldraht geschmückt sind. Noch heute befinden sich von den rund 190 Tonnen Reaktorkernmasse ca. 160 Tonnen im Reaktorgebäude. Die Reduktion der Strahlung war ein wichtiger Schritt, auch heute arbeiten noch mehr als 1.000 Leute auf dem Reaktorgelände, auf dem immer noch Kanäle, Umspannwerk und dicke Rohre stehen. Gelbe Portalkräne, Schienen und hohe Kamine verleihen den Eindruck, dass das hier ein Industriegelände wie jedes andere ist, abgesehen vom großen silbernen Bogen des Sarkophags, der dahinter aufragt und vom Unheil kündet.
Weiter geht es zu Duga-3, auch als Tschernobyl-2 bekannt. Nach einem zusätzlichem Checkpoint befinden wir auf dem Gelände des monumentalen Raketenfrühwarnsystems. Duga-3 war eines von drei Überhorizont- Radarsystemen der Sowjetunion. Es besteht aus zwei Teilen: Eine Antenne für Kurzwellen, die etwa 150 m hoch und 500 m lang ist und eine für Langfrequenzen, die nur 100 m hoch und 250 m lang ist. Das Signal des Senders – eigentlich dazu gedacht, während des Kalten Krieges aufsteigende Interkontinentalraketen auf europäischem und amerikanischem Boden zu detektieren – war weltweit zu hören, und wurde aufgrund des aggressiven Klopfens der Störfrequenzen das System von westlichen Funkern Russian Woodpecker genannt. Trotz seiner Nähe zum Reaktor verstummte das Klopfen erst 1989. Eine Vielzahl von verlassenen Bauten lassen einen ehemals belebten Betrieb vermuten, bis zu 1000 Menschen lebten und arbeiteten auf diesem hochgeheimen Areal: Soldaten, Wissenschaftler und deren Familien.
Als erstes betreten wir die ehemaligen Freizeiträume. In der Turnhalle steht ein Reck auf dem zerrissenen Parkett, daneben liegt eine Sprossenleiter. Überall liegt Schutt, Farbe blättert von den Wänden ab, im angrenzenden Kinosaal fehlt der Großteil der Bestuhlung. Im Projektionsraum liegt noch eine leere Filmrolle, Licht in die Dunkelheit bringen wir mit unseren Taschenlampen.
Wir gehen weiter, hier bekommt man wirklich ein Gefühl, was es heißt, wenn die Natur sich wieder zurücknimmt, was ihres ist. Der Gehweg ist zugewachsen und schmal, manchmal muss man sich bücken. Ehemals freie Flächen sind komplett überwuchert, aus den Soldatenunterkünften wachsen sogar Bäume. Wir betreten einen Wohnblock; es erwartet uns ein typisch sowjetisches Treppenhaus mit einem Müllrohr, in dem sich die Kakerlaken ausbreiteten. Was noch von der Einrichtung übrig bleibt, zeichnet ein Bild des damaligen Lebens. So hängt an einer Wand ein Kalender des schicksalhaften Jahres 1986, ein paar Klaviere stehen auch noch da, einem von ihnen konnte man sogar einige verstimmte Klänge entlocken. Fraglich, ob sie überhaupt jemals gestimmt waren. In einer anderen Wohnung stehen drei noch intakte Kloschüsseln in der Küche.
Vor dem Verlassen der 10km-Zone müssen wir noch auf Strahlung überprüft werden, die rustikalen Portale melden aber, dass wir alle sauber sind und weiterdürfen. Nach einem langen Tag fahren wir nach zurück in die Stadt Tschernobyl, wo unsere Unterkunft ist. Hier verlaufen, typisch für ehemalige Sowjetstädte, die Heizungsrohre oberirdisch (wohl leichter zu reparieren so). Nach dem Abendessen kaufen wir das starke Teteriv- Bier und plaudern noch ein paar Stunden mit der netten Truppe Tschernobyl-Abenteurer. Es ist schon längst dunkel, als wir uns in die Zimmer zurückziehen. Drei Betten pro Zimmer, Bettwäsche müssen wir selbst beziehen, das Duschwasser ist eiskalt. Zum Trost gibt es W-LAN.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf dem Weg nach Prypjat. Prypjat war die Stadt der Wissenschaftler und Arbeiter des Kernkraftwerks. 1970 gegründet, lebten hier 1986 in unmittelbarer Nähe zum Kraftwerk knapp unter 50.000 Einwohner, davon 14.000 Kinder. Durchschnittsalter war 26 Jahre. Prypjat war eine Vorzeigestadt der Sowjetunion. Im Vergleich lebte man damals in Prypjat luxuriös. So bekam man schnell eine Wohnung, es gab drei Schwimmbäder, für eine gleichgroße Stadt in der Sowjetunion gab es nur eines. Plötzlich, der Geigerzähler piepst wild, 14 μSv/h! Wir fahren an einem Hotspot vorbei, das sind Stellen erhöhter Strahlung.
Wir steigen auf das Dach eines 16-stöckigen Wohnblocks; von hier aus haben wir eine sehr gute Sicht auf Prypjat. Der Reaktor drängt sich ins Bild, kaum einen Steinwurf entfernt von uns. Zwischen den hohen Gebäuden wachsen die grünen Bäume, so mancher Wohnblock ist noch unfertig, Prypjat befand sich im Baurausch. In der Ferne erkennt man auch unschwer das monumentale Duga- 3-Radar. Außer dem gelegentlichem Vogelgezwitscher und dem Windrausch herrscht hier Stille, man sieht bis ins nur weniger Kilometer weiter nördlich gelegene Weißrussland. Die Strahlung beträgt hier 0,3 μSv/h.
Unter dem Dach ist auch die zerstörte Einrichtung des Fahrstuhls zu sehen. Die damaligen Ingenieure hatten in ME aufgepasst, so ist die Seilspule in einer O-Anordnung gelagert. Die Überraschungs-Maschinenelementeübung geht auf dem Lastwagenfriedhof und den danebenstehenden Garagen weiter. Da schlägt das Maschinenbauerherz höher (und muss gleichzeitig weinen): V8-Blöcke liegen am Boden, verrostete Zahnräder, erstarrte Kugellager. Zahlreiche Lastwägen, Mobilkrane und Straßenwalzen stehen im Wald. Was nicht fest ist und noch verwendet werden konnte, ist schon längst weg.
Um zum berühmten „Lazurny“-Schwimmbecken zu kommen, steigen wir ein Stockwerk hinauf. Zuerst betreten wir die Sporthalle; über die Umkleidekabine kommen wir zum Becken. Von der hohen Decke hängt die zerfetzte Dachverkleidung, vermehrt fehlen Fliesen im leeren Becken, verlassen steht der Sprungturm. Die Schwimmbaduhr zeigt 01:23, der Uhrzeit des Desasters. Das sieht unheimlich aus, wurde aber erst Jahre später so eingestellt.
Wir gehen auch bei der Klinik vorbei. Davor steht ein gynäkologischer Stuhl, als Denkmal an die Zwangsabtreibungen, die aus Furcht vor Mutationen angeordnet wurden. In die Klinik selbst dürfen wir nicht hineingehen, sie ist einer der am stärksten strahlenden Hotspots. Nach der Explosion kamen die Ersthelfer hierhin, ihre gesamte radioaktiv verstrahlte Ausrüstung liegt immer noch im Keller. Auch bei der Schiffsanlegestelle ist wieder ein Hotspot. Es ist beeindruckend, wie lokal diese sein können. Beträgt die Strahlung an einer Stelle 33 μSv/h, so springt sie nur 15 cm weiter auf 44 μSv/h.
Hinter dem großflächigen Hauptplatz befindet sich der nie eröffnete Vergnügungspark. Die Einweihung hätte zu den 1. Mai-Feierlichkeiten stattfinden sollen. Neben dem verrosteten Autodrom und dem Karussell steht das bekannte Riesenrad. Fehlen nur noch das maiTUM-Festzelt und das Bier. Doch was einmal ein Ort des Vergnügens hätte werden sollen, ist heute ein gefährliches Pflaster. Die Hubschrauber, die über dem klaffenden Loch im Reaktor 4 ihre Löscheinsätze flogen, wurden hier abgespritzt und so gelangte viel Strahlung in den Boden. 600 Piloten starben an den Folgen, viele wurden direkt von Afghanistan hierherbeordert.
Nebenan ist das Stadion von Avanhard Prypjat. Wir sehen aber nur Wald. Von der Mitte des Spielfeldes lassen sich tatsächlich die Tribünen hinter all den Bäumen gerade noch erkennen.
Nach diesem 1,5 Stunden langen Spaziergang neigt sich unser Ausflug dem Ende zu. Im Minivan fahren wir noch einmal am Atommeiler vorbei. Dafür müssen wir durch den Roten Wald fahren, durch seine Nähe zum Unfall immer noch eine der am stärksten verstrahlten Regionen der Welt. Hier ist Halten strengstens verboten. Nach der Explosion wurde der Wald gebulldozed, die Bäume vergraben. Dennoch ist viel Strahlung in den Boden gelangt; der Wald, der darüber gewachsen ist, ist rot gefärbt.
Beim Checkpoint Dytjatki werden wir ein letztes Mal auf Strahlung überprüft. Dann beschleunigt der Minibus und wir lassen den Ort des Schreckens, aber auch der Faszination, hinter uns.
Ganna – Besuch bei einer Evakuierten
Vor dem Verlassen der Sperrzone besuchen wir noch Ganna. Sie war eine Bäuerin
und wurde 1986 evakuiert, kam jedoch ein Jahr später zurück.
In ihrem Dorf lebten einmal 400 Einwohner, diese wurden jedoch erst am 3. Mai evakuiert. Die Behörden sagten, dass es keinen Grund zur Panik gäbe und sie in drei Tagen zurückkommen könnten. Es müsse nur ein Feuer gelöscht werden. Doch sogar die Tiere konnten fühlen, dass etwas nicht stimmen konnte, als sie auf dem Weg zur Massenschlachtung waren. Von den Evakuierten kamen 130 zurück. Viele blieben jedoch nicht, weil ihnen das alles zu viel war.
Heute lässt die die Bevölkerung jedoch auf einer Hand abzählen, die drei in ihrem Ort sind aber alle zu alt, um sich noch sehen zu können. Unsere Ganna ist bald 81 Jahre alt, sie erlebte sogar noch den zweiten Weltkrieg und erzählt uns, wie sie sich vor den Deutschen im Wald versteckte. Zumindest konnte sie den Feind damals sehen. Das Unglück am 26. April 1986 und die darauf folgenden Tage wird sie aber nie vergessen. Sie arbeitete im Garten, es war ein warmer Frühlingstag.
Doch es sind schmerzvolle Erinnerungen für sie, auf einmal war ihr altes Leben weg. Auch wenn sie froh ist, wieder hier zu sein, weil es ja ihr Zuhause ist, der jetzige Zustand des Dorfes macht sie sehr traurig. Zwei Söhne hat Ganna, die leben in Weißrussland. Früher kamen sie öfters zu Besuch, doch seit 2014 und dem Konflikt in der Ostukraine und der damit verschlechterten politischen Situation können sie nur noch einmal im Jahr kommen. Deswegen kümmert sich nie eigentlich niemand um sie. Einmal im Monat wird ihre Pension
vorbeigebracht, manchmal auch Essen.
Während sie redet, springt voller Lebensfreude eine junge Katze herum. Ganna sagt uns, dass wir jung sind und das Leben genießen sollen. Sie hingegen betet für ihren Tod und hofft auf ein friedliches Einschlafen.
Aus 05/2019 von Marcus Dürr
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