Ergonomie sind nicht nur Stühle – Interview mit Professor Bengler

“Ergonomie, hat das nicht was mit Stühlen zu tun?” So oder so ähnlich waren die Reaktionen als ich Kommiliton*innenen von meinem bevorstehenden Interview erzählt habe. Auch ich persönlich hatte bis dahin noch nicht viel Kontakt mit dem Thema Ergonomie… dachte ich zumindest. Für mich war Ergonomie immer etwas zwischen einem Bürostuhl und dem Lenkrad eines Autos. Dass sich dieser Fachbereich mit viel mehr beschäftigt als nur mit Stühlen, weshalb Menschen keine linearen Systeme sind und warum die Zukunft der Mobilität viel Potenzial hat, haben wir von Professor Klaus Bengler vom Lehrstuhl für Ergonomie erfahren.

Reisswolf: Ergonomie ordnen viele nicht dem Maschinenwesen zu. Worum geht es beim Lehrstuhl für Ergonomie?

Prof. Klaus Bengler: Zum Thema Ergonomie höre ich oft das Stichwort Bürostühle. Durch Covid haben zwar sehr viele Menschen am eigenen Körper erfahren, wie wichtig ein guter Stuhl für die Arbeit im Home-Office ist. Aber Ergonomie ist so viel mehr! Wir befassen uns am Lehrstuhl für Ergonomie mit der Beziehung zwischen Mensch und Technik. Ergonomie bedeutet, technische Innovationen so zu gestalten, dass sie für Menschen auf Anhieb bedienbar sind, dass ihre Benutzung Freude macht und dass sie langfristig nicht zu Schädigungen führen.

Reisswolf: Ich habe auch das Gefühl, das für viele Ingenieur*innen Ergonomie eine lästige Pflicht ist oder Ergonomie erst betrachtet wird, wenn am Ende der Entwicklung noch Zeit ist. Warum ist Ergonomie eigentlich besonders wichtig?

Bengler: Ergonomie ist erst dann lästig, wenn sie zu spät eingebunden wird. Wenn die Produktentwicklung weit vorangeschritten ist, dann wird es sehr teuer und schwierig – bis zu unmöglich – Änderungen vorzunehmen. Drehen wir die Frage also mal um! Wann macht es Spaß, mit Ergonom*innen zusammenzuarbeiten? Ergonom*innen verstehen sich als Mittler zwischen Endnutzer*innen und dem Engineering. Viele Ingenieure fragen sich, wie der Mensch mit Technik umgeht oder wie der Mensch lernt. Genau da kommen ausgebildete Ergonom*innen ins Spiel. Schon die Formulierung „der Mensch“ ist nämlich heikel, denn Produkte sollen für viele verschiedene Menschen passen. Nehmen wir den Fahrersitz: Im Formel 1 Wagen zum Beispiel ist dieser Sitz genau für einen Menschen gemacht und häufig ein Unikat. Das macht die Entwicklung leichter. Bei den meisten Produkten geht es aber darum, dass viele Menschen zufrieden sind und damit umgehen können. Oft wird Ergonomie nur als Kostenfaktor gesehen. Aber Ergonomie trägt dazu bei, dass Produkte sicherer und einfacher werden.

Reisswolf: Wie sollte ich als Ingenieur*in dann an die Ergonomie rangehen?

Bengler: Wir sind ja an einer technischen Universität. Und die ist von technologischen Innovationen geprägt. Das bedeutet, hier werden neue Ansätze gefunden und Technologien rekombiniert, nach denen unter Umständen niemand gefragt hat. Das nennt man den Technologiepfad. Das ist alles inspirierend, aber die eigentliche Frage ist doch, welche Aufgabe der Mensch aktuell lösen will und muss. Deshalb fokussieren wir uns auf die Aufgaben, die im Alltag und im Betrieb auftauchen. Während COVID müssen wir viel mehr Kommunikationsaufgaben über die Distanz erledigen. Jetzt sind digitale Kommunikationswerkzeuge plötzlich wichtig. Wissen Sie, was die meistgestellte Frage in Zoom-Konferenzen ist?

Reisswolf: Kannst du mich hören?

Bengler: Richtig! Ich spiele es mal durch. Ich trete in eine Zoom-Konferenz ein und die Grundvoraussetzung ist, dass alle einander hören und etwas sagen können. Wir können es weiterhin lustig finden, dass wir uns am Anfang nicht begrüßen, sondern reihum fragen, ob alle gehört werden können. Oder man könnte sich etwas einfallen lassen, damit klar wird, dass die Akustik steht. Ihr Diktiergerät ist auch ein tolles Beispiel. Sie möchten, dass wir durch die Aufnahme nicht gestört werde und wir uns auf das Gespräch konzentrieren können. Dabei ist es angenehm, wenn Sie kontrollieren können, ob das Ding noch läuft.

Reisswolf: Tatsächlich sehe ich ein kleines Licht blinken.

Bengler: Und das reicht auch. Man braucht kein großes Display dafür. Das ist eine gut gestaltete Rückmeldung und das reicht vollkommen. Wir Ergonom*innen beginnen bei der Aufgabe. Wer muss welche Aufgabe unter welchen Bedingungen lösen? Und erst dann gehen wir auf die Suche, mit welcher technischen Lösung es funktionieren kann. Das ist immer der Dipol zwischen Ergonom*innen und Ingenieur*innen und wenn man diese Seite klar beschreibt, kann man den Ingenieur*innen auch die Arbeit erleichtern.

Reisswolf: Kann dabei Automatisierung nicht auch eine wichtige Rolle spielen?

Bengler: Bei ihrer Generation sehen wir ein enormes Potential der Automatisierung der technischen Seite. Das bedeutet aber für den Menschen oft generische Überwachungsarbeit. Zum Beispiel muss man die ganze Zeit nur auf ein Licht schauen, dass teilweise nur einmal die Woche aufblinkt. Ich sage Ihnen als Ergonom, dass das auf Dauer nicht gut ist. Der Mensch wird Fehler machen. Das ist ein kurioses Dilemma. Man hat als Mensch eigentlich sehr wenig zu tun und scheitert. Daher träumen wir von der Kooperation zwischen Mensch und Maschine. Tatsächlich gibt es viele Situationen, wo Menschen ihr Know-how ausspielen und dabei von starken Maschinen unterstützt werden können. Wir sprechen im Zusammenhang der Automatisierung also lieber vom Amplifying als dem Ersetzen oder Monitoring. Manche Kollegen sagen: If you take it, take it all. Wenn man etwas automatisiert, dann sollte man es möglichst vollständig und perfekt automatisieren und die Fehler abfangen. Aktuell ist die Gratwanderung, dass wir technisch schon sehr viel können, aber es bleiben eben noch Menschen bei der Überwachung.

Reisswolf: Wie geht man denn dabei am besten vor?

Bengler: Am Anfang geht es darum, sich interdisziplinär auszutauschen. Der nächste Schritt ist, die Nutzer*innen einzubinden, also Usertests durchzuführen oder auch in Simulationen digitale Nutzermodellen durchzuspielen. Denn immer, wenn der Mensch dabei ist, wird es statistisch. Sie geben jemandem ein Gerät und er wird es nach einer Stunde anders benutzen als in den ersten fünf Minuten. Menschen sind keine linearen Systeme. Menschen sind, Gott sei Dank, unterschiedlich. Das bedeutet aber eben auch, dass diese Diversität in das Produktdesign einkalkuliert werden muss. Eine sehr wichtige Aufgabe der Ergonomie die Analyse bei der Technologiefolgenabschätzung. Wir lernen jetzt als Gesellschaft mit automatisiertem Fahren umzugehen. Wie würde das aussehen, wenn viel mehr solche Systeme im Umlauf wären? Aktuell fährt die Gesellschaft gegen eine Unfallwahrscheinlichkeit. Je mehr Leute und Kilometer, desto wahrscheinlicher wird ein Unfall. Dann ist eine wichtige Frage: Wie werden Menschen mit diesem System umgehen?

Reisswolf: Sie haben eben statistische Untersuchungen angesprochen, welche Versuchsaufbauten haben Sie am Lehrstuhl? Und was ist ihr Lieblingsversuch?

Bengler: Versuche spielen eine außerordentlich wichtige Rolle. Wir testen sehr viel zur Fahrzeugführung und zu robotischen Systemen. Das heißt, wir haben mehrere Fahrsimulatoren aber wir testen natürlich auch im Feld. Im Vordergrund steht die Begegnung von Mensch und Maschine. Die Frage nach meinem Lieblingsversuch ist gar nicht so leicht (lacht). Zwei Versuche sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, weil wir da zu spannenden Erkenntnissen gekommen sind: Der eine war ein Begegnungsversuch. Dabei trifft ein automatisiertes Fahrzeug auf einen Menschen, der die Fahrbahn überqueren möchte. Die Frage war nun, wie reagieren die Menschen in dieser Shared Space Situation? Für mich war von Anfang an klar, dass wir den Blickkontakt zwischen Fußgänger, Fahrer und Auto messen müssen. Im Versuch kam heraus, dass wir weder hier in München noch in Großbritannien oder Griechenland eindeutigen Blickkontakt messen konnten. Es ist interessant, so eine Fehlannahme zu widerlegen. Als ich danach im Alltag darauf geachtet habe, als Autofahrer oder Fußgänger, fiel mir plötzlich auf: Wir gehen mit wahnsinnig wenig Blickverhalten über die Straße und verlassen uns extrem aufeinander, besonders auch wegen der Ablenkung durch das Handy. Derzeit verlassen sich alle darauf, dass die anderen den Unfall vermeiden werden. Das bedeutet außerordentliche Anstrengung für ein automatisiertes Fahrzeug und wir erwarten damit von Beginn an sehr viel. Der zweite schöne Versuch hat sich mit dem Umgang des Menschen mit mobilen Systemen wie Staubsaugerroboter oder Lieferroboter beschäftigt. Man geht zum Beispiel durch den Baumarkt, wo ein Unterstützungsroboter herumfährt. Das Ziel von diesem Roboter ist, zu helfen. Tatsächlich weichen die meisten dem Roboter lieber aus. Die Kernfrage lautete: Kann man über Bewegung kommunizieren? Tatsächlich haben wir herausgefunden, dass Menschen extrem viel aus dem Bewegungsverhalten anderer ableiten. Wir haben das auch in einem Versuchsaufbau mit Folgerobotern in Krankenhäusern beobachtet. Wie sollte sich ein Roboter bewegen, der mir nicht folgt, sondern dem ich hinterherlaufe? Die Trajektorie ergibt vielleicht einen rechten Winkel um die Ecke. Aber für den Menschen ist das nicht optimal. Wie kann ich dem Menschen also schon vor der Bewegung anzeigen, dass ich gleich nach rechts gehe? Wir Menschen können anhand von Bewegungsansätzen sehr gut Tendenzen voraussagen. Wenn man das überträgt, müssen sich Roboter weniger technisch, sondern anthropomorph bewegen und damit andere Trajektorien fahren. Die vordingliche Aufgabe für Ergonomen besteht also darin, an Lösungen mitzuarbeiten und Gestaltungsparameter zu liefern.

Reisswolf: Sie haben jetzt schon das autonome Fahren angesprochen, auch bei Ihnen am Lehrstuhl wird viel zum Thema Mobilität geforscht. Wie sieht denn da Ihre Vision aus?

Bengler: Meine Generation ist außerordentlich stark durch individuelle Mobilität mit dem Auto geprägt, was zu dem Zeitpunkt extrem viel ermöglicht hat. Ich bin gewohnt, sehr flexibel mobil zu sein. Die Vision wäre jetzt, dass uns auch in Zukunft diese Flexibilität erhalten bleibt und wir gleichzeitig wesentlich nachhaltiger werden. Mobilität halte ich für einen großen Beitrag zur Lebensqualität. Allerdings können wir uns das aktuell nur leisten, indem wir viel Masse mit uns durch die Gegend bewegen. Dabei fehlt es nicht an Konzepten für die Langstrecke, sondern es fehlt uns ein Baustein zwischen dem eigenen Fahrzeug und den großen Verkehrsträgern Zug, U-Bahn oder S-Bahn. In Zukunft kann ich es mir zwar nicht vorstellen, völlig ohne individuelles Fahrzeug unterwegs zu sein, da bin ich zu lange entsprechend sozialisiert. Aber ich träume davon, dass sich im Bereich Zweiradmobilität mehr tut und passende Alternativen entstehen. In den letzten Jahrzehnten haben wir uns sehr stark auf bestimmte Verkehrsträger standardisiert, das kann man jetzt technologisch stärker diversifizieren.

Reisswolf: Ich habe noch eine etwas philosophischere Frage: Ein Ziel der Ergonomie ist neben der Sicherheit auch die Leistung der Menschen zu steigern. Ich habe das Gefühl, dass in der Gesellschaft der Trend vorherrscht, etwas zu entschleunigen. Wie ist da für Sie der Zusammenhang? Verstärkt Ergonomie das, oder hilft sie den Menschen, die vielleicht Schwierigkeiten haben mit der Leistungsgesellschaft?

Bengler: Ich finde, das muss man differenziert betrachten: Leistung bedeutet nicht nur, Dinge schnell zu tun, sondern auch, wie viel vom Ziel ich in einer bestimmten Zeit erreiche. Es geht darum, technische Systeme als Werkzeug zu sehen, die mich zum Ziel führen. Wenn ich einen Text schreibe, sollte ich mich währenddessen nicht auf den Editor konzentrieren müssen. Wichtig ist dabei auch, dass uns die technischen Systeme nicht unter Zeitdruck setzen. Das kann durch schlechten Automationen ganz schnell der Fall sein. Jetzt zur Leistungsgesellschaft. Der Begriff hat natürlich einen negativen Beigeschmack. Denn von 100 Prozent ausgehend, kann man Leistung immer graduell steigern. Da müssen wir aufpassen, denn der Mensch ermüdet. Wir sind alle stolz auf unsere individuelle Leistung und das ist auch gut so. Während Covid haben wir deutlich gesehen, dass es sehr unbefriedigend ist, wenn wir nicht zeigen können wozu wir in der Lage sind. Das hat nichts mit finanziellen Problemen zu tun, sondern wir definieren uns über das, was wir sichtbar machen können. Dabei haben alle – und das ist das Problem – unterschiedliche Leistungsniveaus und Kompetenzen. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Während Covid haben wir gelernt, dass man überall, jederzeit irgendwie arbeiten kann. Diese Flexibilität kann sehr praktisch sein, aber wir müssen auch akzeptieren, dass irgendwann alle Erholung brauchen. Es gibt einen alten Grundsatz: Unterforderung ist schlecht, Überforderung ganz schlecht. Die Kunst besteht darin, jemanden im optimalen Anforderungsniveau zu halten.

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