Wenn wir über unsere heutigen Alltagsprobleme nachdenken, fällt uns wohl als allerletztes der öffentliche Nahverkehr ein. Er funktioniert eben einfach. Seit vor ein paar Jahren die Ring-S-Bahn [1], der Ausbau der U9 bis Neufahrn und die U12 fertiggestellt wurden, sind die meisten Münchner*innen in weniger als 20 min so gut wie überall. Auch mit dem Fahrrad kommt man gut durch die Stadt. Kürzere Wege gehen diejenigen, die es können, einfach zu Fuß. Auf dem Land sind die meisten Orte über Ruf- und Minibusse an die nächsten ÖPNV-Knotenpunkte angeschlossen. Kurzum: Über Mobilität denken wir kaum nach, so selbstverständlich ist sie für uns. Doch das war nicht immer so. Bis in die 2020er-Jahre dominierten vor allem private Automobile und große, laute Straßen voller Stau das Land- und Stadtbild. Berufsverkehr bedeutete oft stundenlange Fahrten. ÖPNV war lückenhaft und teuer. Warum war das so und wie war es wohl, am Anfang der 2020er in einer solchen Stadt zu leben?
2020 war der öffentliche Nahverkehr in Deutschland so marode, dass sich die Menschen ganze 43 Millionen private Automobile zugelegt hatten, um die klaffenden Lücken im ÖPNV auf ihren täglichen Wegen überbrücken zu können – 17 mal so viele wie heute! Das war damals auch Sparmaßnahmen geschuldet, die als politisches Allheilmittel galten. So fehlte über Jahrzehnte durch Regeln wie „Schuldenbremsen“ und „Schwarze Null“ das Geld für sinnvolle Investitionen in öffentliche Infrastruktur. Auch Forschung und Bildung leideten unter dem Sparzwang, wodurch oft das Know-How und die Fachkräfte für die Umsetzung technischer Großprojekte fehlte. Das viele Sparen hatte die öffentliche Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkt.
Soziale Kosten
Damit war aber langfristig nichts zu gewinnen. Die fehlenden öffentlichen Verkehrswege machten große Teile der Bevölkerung von privaten Automobilen abhängig. Die meisten konnten sich diese aber eigentlich nicht leisten. Es musste also wieder der Staat einspringen und Teile der Kosten übernehmen.
Eine Studie [2] schlüsselte 2022 detailliert auf, welche Kosten nicht Fahrzeugeigentümer*innen, sondern die Gemeinschaft trug. Dabei kamen vor allem Luftverschmutzung, Infrastrukturinstandhaltung, Flächenfraß für Straßen und Parkplätze sowie die Effekte des Klimawandels die Gesellschaft teuer zu stehen. So wurde das damals gängige Fahrzeugmodell „Golf“ des Herstellers „VW“ im Jahr 2020 durchschnittlich mit mehr als 4.700€ subventioniert. Die sozialen Kosten machten bei verschiedenen Fahrzeugtypen etwa 30 bis 40% der Gesamtkosten aus. Hier waren viele Ressourcen gebunden, die wir heute glücklicherweise für nachhaltigere öffentliche Verkehrswege verwenden können statt die sozialen und ökologischen Schäden der Automobile beseitigen zu müssen.
Auto-Immobile
Der Name Automobil ist ohnehin irreführend. Denn im Jahr 2020 standen private Fahrzeuge laut Bundesverkehrsministerium im Schnitt mehr als 23 Stunden am Tag ungenutzt herum. Selbst zu Spitzenzeiten fuhren nie mehr als 10% der 43 Mio. PKW gleichzeitig [3]. Auch hier gab es also enorme Ressourcenverschwendung. Erstens wurden zehnmal so viele Privatfahrzeuge hergestellt wie eigentlich benötigt, zweitens mussten für die herumstehenden 90% der Fahrzeuge zahlreiche Parkplätze und Stellflächen gebaut werden. Das mag auf dem Land praktikabel gewesen sein, in der Stadt war der öffentliche Raum allerdings ohnehin knapp. Der Platz, den die Auto-Immobile einnahmen, fehlte für Rad-, Schienen- und Fußwege, für Grünflächen und für öffentliche Aufenthaltsräume, wie wir sie heute zur Genüge in unseren Innenstädten finden.
Parkende Fahrzeuge und die Asphalt- und Betonflächen für diese verschlechterten zudem das städtische Klima. In den Sommern, die damals schon durch die Klimakrise immer heißer wurden, heizten Metallkarosserien und Asphaltflächen die Wohnviertel zusätzlich auf [4]. So wurden Straßen pro zehn abgestellten Fahrzeugen zwischen 0,5 und 1,6ºC wärmer [5]. Heiße Sommertage waren damals nicht nur unangenehm, sondern aufgrund der fehlenden Klimaanpassung oft tödlich, vor allem für ältere Menschen.
Die gesundheitlichen Folgen der Autogesellschaft
Neben dem städtischen Aufheizen hatten die vielen Automobile durch Schadstoffemissionen, Feinstaubabreibungen, Unfälle und Lärm auch andere Gesundheitsprobleme zur Folge. 2020 starben etwa 2.700 Menschen direkt durch Verkehrsunfälle. An den Folgen von Stickoxiden starben laut Deutscher Umwelthilfe 9.200, durch Feinstaub sogar etwa 63.100 Menschen [6]. Auch der städtische Lärm und Infraschall beeinträchtigte die Gesundheit der Menschen. Diese Probleme waren nicht allein Automobilen zuzuschreiben, denn damals wurde noch viel mehr gesundheits- und umweltschädliche Industrie betrieben, aber die PKW trugen ihren Teil dazu bei.
Ungerechte Mobilität
Zuletzt war das damalige Verkehrssystem auch grundlegend ungerecht. Durch das Knüpfen von Mobilität an Privateigentum in Form von Automobilen wurden Ärmere systematisch benachteiligt. Mobilität war – heute schwer nachvollziehbar – ein Luxusgut. Autos waren für viele trotz staatlicher Subventionen zu teuer und der damals noch kostenpflichtige öffentliche Nahverkehr war in hunderte kleine Verbünde mit eigenen Tickets und Zonen zergliedert, was die Benutzung teuer und unnötig kompliziert machte.
Wie selbstverständlich es einmal war, dass Menschen strukturell Mobilität vorenthalten wurde, zeigt sich auch an Aussagen aus der Zeit. Im Jahr 2022 wurde im Rahmen eines Entlastungsprogramms wegen steigenden Energiepreisen drei Monate lang ein deutschlandweites 9-Euro-Ticket angeboten, das zumindest günstige Mobilität für alle Menschen im Rahmen des damaligen ÖPNV-Systems ermöglichte. Nach der Testphase forderte eine große Mehrheit die Weiterführung des Projekts [7]. Anstatt der Forderung nachzukommen, kritisierte der damalige Bundesfinanzminister die „Gratismentalität“ um das Ticket. Er betonte damit, dass Mobilität damals nur gewissen privilegierten Menschen zur Verfügung stehen sollte.
Da Mobilität in einer modernen Gesellschaft aber ein Grundbedürfnis ist, auf das alle angewiesen sind, konnten ärmere Menschen nicht einfach auf sie verzichten. Sie fuhren also trotzdem – oft ohne Ticket. Damals gab es noch ein Gesetz aus der NS-Zeit, welches das zu einer Straftat machte. Der Staat ging hart gegen die sogenannten „Schwarzfahrenden“ vor. Wer die Geldstrafe nicht zahlen konnte, musste im damaligen System in ein Gefängnis. Das kostete den Staat nicht nur viel mehr Geld als arme Leute einfach ohne Ticket fahren zu lassen, es bestrafte auch systematisch Armut. So saßen um 2020 jährlich mehrere tausend Menschen in den Gefängnissen weil sie sich keinen Fahrschein leisten konnten [8]. Schon 2021 waren sich die Menschen dieser Ungerechtigkeit bewusst und richteten einen „Freiheitsfonds“ ein, um die Strafen armer Menschen zu bezahlen, sodass diese nicht in ein Gefängnis mussten [9].
Kann Mobilität sexistisch sein?
Doch auch die Strukturen der öffentlichen Verkehrsmittel selbst waren ungerecht. Sie wurden nach den häufigsten Wegen geplant, allerdings nur nach denen von gewissen Bevölkerungsgruppen. Die „häufigsten Wege“ waren meist auf den erwerbstätigen Mann in der damaligen Rolle des Familienernährers zugeschnitten [10]. Indirekte Wege und viele Abstecher, wie man sie macht, wenn man das Kind zur Schule bringt, einkaufen geht oder Verwandte zur Ärztin begleitet, waren oft nicht im System vorgesehen und mit zahlreichen Bus-Umstiegen und Fußwegen verbunden. Diese Wege wurden hauptsächlich von Frauen gemacht, weil sie damals meist die Care-Arbeit übernahmen. Wirklich gut ausgebaut waren nur berufliche Dienstwege, etwa zwischen Wohn- und Arbeits- und Bürovierteln.
Auch ärmere, häufig migrantisierte Bevölkerungsgruppen wurden bei Verkehrsplanungen weniger bedacht. Das lag daran, dass ÖPNV nicht am Gemeinwohl ausgerichtet war, sondern etwas kostete, also einer Profitlogik folgen musste. Dementsprechend lohnten sich Investitionen widersprüchlicherweise für ärmere Wohngebiete nicht. Dabei waren gerade sie auf Unterstützung bei der Mobilität angewiesen.
All diese Missstände waren über Jahrzehnte allgegenwärtig und dennoch weitgehend unwidersprochen. Mit dem Experiment „9-Euro-Ticket“ wurde aber auf einmal deutlich, dass die hohen Preise und die schlechte Qualität des Mobilitätssytems nicht in Stein gemeißelt waren. Die Vorherrschaft der Automobilität war eine veränderbare politische Entscheidung. So wurde in den 20er-Jahren schließlich ein Mobilitätswandel angestoßen, der zu unserem heutigen System führte.
Was sich seitdem verändert hat
Auch das ist natürlich nicht perfekt. Aber es geht weitaus bewusster, gerechter und nachhaltiger mit den Ressourcen und dem begrenzten öffentlichen Raum um. Der Weg hierhin war weit. Unsere Innenstädte mussten von großen Straßen und Autobahnen befreit werden. Die versiegelten Flächen machten Platz für Stadtbäche und Parks, Rad- und Fußwege. Das Stadtklima verbesserte sich und man ging wieder gerne längere Wege zu Fuß. Unser Schienensystem wurde über Jahrzehnte hinweg instand gesetzt und massiv ausgebaut. Viele kleinere Orte bekamen wieder oder zum ersten Mal einen Bahnhof mit guter Anbindung. Für die individuellen Mobilitätsbedürfnisse in Städten wie auf dem Land mussten viele individuelle Lösungen gefunden werden. In dem Prozess entstanden unzählige neue Technologien. Deren Umsetzung schaffte Beschäftigungen für die Menschen, die bis heute unser Mobilitätssystem am Laufen halten, sodass wir kaum noch darüber nachdenken müssen, wie wir zur Arbeit, zum Supermarkt, zu Freund*innen und Verwandten, zur Uni oder zur Ärztin kommen.
Angesichts der Geschichte unseres Mobilitätsystems sollte uns bewusst sein, dass dieses nicht selbstverständlich ist, sondern hart erarbeitet und erkämpft wurde. Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe, es zu erhalten und an die Bedürfnisse aller anzupassen.
Dieser Artikel wurde vollständig in der Münchner U-Bahn geschrieben.
Quellen
1: studie2016.ringbahn.de
2: Stefan Gössling, Jessica Kees, Todd Litman, The lifetime cost of driving a car, Ecological Economics, Volume 194, 2022, 107335, ISSN 0921-8009,
3: www.mobilitaet-in-deutschland.de/pdf/MiD2017_Ergebnisbericht.pdf
4: www.derstandard.de/story/2000137612864/wie-parkende-autos-die-hitze-in-der-stadt-verstaerken
5: Grajeda-Rosado, Ruth et al. (2022). Anthropogenic Vehicular Heat and Its Influence on Urban Planning. Atmosphere. 13. 1259. 10.3390/atmos13081259.
6: www.duh.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/63100-vorzeitige-todesfaelle-durch-feinstaub-und-9200-durch-stickstoffdioxid-deutsche-umwelthilfe/
7: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verkehr-umfrage-mehrheit-fuer-guenstige-nachfolge-des-9-euro-tickets-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220723-99-127249
8: fragdenstaat.de/blog/2021/12/03/fahren-ohne-fahrschein/
9: freiheitsfonds.de
10: www.vcd.org/artikel/feministische-verkehrspolitik
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