Alles konstruiert? Über die Entwicklung erfolgreicher Technologien

Was macht eine Technologie erfolgreich? Allen voran sollte sie funktionieren: Sie sollte ihren Zweck erfüllen – und das halbwegs zuverlässig. Zweitens wird sie gebraucht: Es gibt Bedarf, wie der Wirtschaftler sagen würde. Drittens ist sie weit verbreitet, am besten auf der ganzen Welt. Und – viertens – wird sie viel genutzt. Im Idealfall ist sie sogar in unseren Alltag etabliert. Fahrräder, Autos und Smartphones zum Beispiel. Sie sind alle samt sehr erfolgreiche Technologien. Aber wie werden Technologien erfolgreich? Warum sind manche Technologien erfolgreicher als andere? Und warum dauert es so lange, bis sich eine neue, bessere Technologie durchsetzt?

Rückblickend scheinen erfolgreiche Technologien meist alternativlos und unverzichtbar. Ein Leben ohne Smartphone? Heute schwer vorstellbar. Und auch wenn der Ruf von Autos in den letzten Jahren einige Dellen und Kratzer bekommen hat, so sind Autos – zumindest in einer Autonation wie Deutschland – noch lange nicht vom Tisch oder, besser gesagt, von den Straßen. Aber ist die Entwicklung von Autos und Smartphones wirklich zwangsläufig? Sind diese Technologien ein logischer Schritt in der Entwicklung neuer Technologien? Oder wären auch andere Technologien denkbar? Und falls ja, wären diese ‚alternativen Technologien‘ dann ebenso erfolgreich gewesen?

Technischer Fortschritt – alternativlos und zwangsläufig?

„NEIN!“ sagt der Technikdeterminismus. „Höher, schneller, weiter“ lautet die Devise. Technikdeterminismus (auch: technologischer Determinismus) ist ein Begriff aus der Techniksoziologie, dem Studium des Zusammenspiels zwischen Technik und Gesellschaft. Technikdeterminismus meint die weitverbreitete Ansicht, dass mehr Technologieentwicklung zwangsläufig zu neuen, besseren Technologien führt. Technischer Fortschritt ist demnach das oberste Ziel. Der Weg hin zu immer besseren, sichereren, effizienteren Technologien ist, aus technikdeterministischer Sicht, vorgegeben und unausweichlich [2]. Unsere Aufgabe ist es daher, diesen Weg so schnell wie möglich zu gehen und so den technischen Fortschritt zu beschleunigen.

Technikdeterminismus meint, dass mehr Technologieentwicklung zwangsläufig zu neuen, besseren Technologien führt.

Aber wo lang führt dieser Weg? Wie finden wir den schnellsten Weg? Was in der Theorie einfach klingt, gestaltet sich in der Praxis, wie so oft, schwierig. Die Steine auf dem Weg sind nicht nur technischer Natur. Die vielleicht zentralste Frage ist viel grundsätzlicher: Was genau bedeutet eigentlich „besser“?

Clash of Interpretations

Wer viel fragt, bekommt viele Antworten. Das kennt auch wir Ingenieure: endlose Anforderungskataloge mit teils widersprüchlichen Anforderungen. Schade, dass sich nicht alle einig sind. Naja, was soll’s!? Was „besser“ ist, ist eben Ansichtssache.

Die Techniksoziologie hat auch für dieses Phänomen ein Konzept: interpretative Flexibilität. Interpretative Flexibilität meint, dass Nutzer, je nach ihren Bedürfnissen, Technologien unterschiedlich wahrnehmen und bewerten [3]. Der Knackpunkt dabei ist, dass aufgrund der interpretativen Flexibilität mehrere Varianten einer Technologie zur gleichen Zeit existieren können. Entgegen der Behauptung des Technikdeterminismus setzt sich demnach also nicht sofort und nicht zwangsläufig eine Variante – nämlich die vermeintlich „bessere“ – durch.

Interpretative Flexibilität meint, dass Nutzer, je nach ihren Bedürfnissen, Technologien unterschiedlich wahrnehmen und bewerten.

So gab es Ende des 19. Jahrhundert in Großbritannien beispielsweise unterschiedliche Varianten von Fahrrädern: Hochräder und Sicherheitsräder. Während das Hochrad als Sportgerät und Statussymbol diente, war das Sicherheitsrad ein Fortbewegungsmittel für die Mittel- und Arbeiterklasse [1]. Zudem war das Sicherheitsrad der Vorgänger des modernen Fahrrads, wie wir es heute kennen – auch wenn die Varianz bei Fahrrädern auch heute noch sehr groß ist – eben wegen der unterschiedlichen Anforderungen verschiedener Nutzer und Nutzungszwecke.

Hochrad (links) und Sicherheitsrad (rechts)

Technologieentwicklung als sozialer Konstruktionsprozess

Das Konzept der interpretativen Flexibilität lässt sich noch weiterspinnen. So bilden Nutzer mit ähnlichen Anforderungen sogenannte relevante soziale Gruppen (z.B. Hochrad-fahrende Sportler und Sicherheitsrad-fahrende Frauen) [3]. Diese Gruppen vertreten unterschiedliche Interessen und sehen unterschiedliche Probleme. Durch das Ausdiskutieren und Lösen dieser Interessenskonflikte wird die Technologie weiterentwickelt bis sich schließlich eine Variante durchsetzt (z.B. das Sicherheitsrad) [3]. Auf diese Weise beeinflussen die relevanten sozialen Gruppen die Entwicklung einer Technologie.

Die Entwicklung von Technologien wird daher immer häufiger als gesellschaftlicher Prozess dargestellt. Vertreter dieser Theorie namens Social Construction of Technology betonen, dass Technologien stets in ihrem sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontext gesehen werden müssen. So beruhe die Technologieentwicklung nicht nur auf ingenieurstechnischen Überlegungen. Vielmehr seien gesellschaftliche Strukturen, Werte und Erwartungen entscheidend [3]. Nicht zuletzt sei somit auch der Erfolg von Technologien von der Gesellschaft erschaffen, sprich, sozial konstruiert.

Die Theorie der Social Construction of Technologie versteht Technologieentwicklung als sozialen Prozess. Technologien sollten demnach stets in ihrem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext betrachtet werden.

Quellen

[1] Bijker, Wiebe E. (1995): Of bicycles, bakelites, and bulbs. Toward a theory of sociotechnical change. Cambridge, Mass.: MIT Press (Inside technology).
[2] Sismondo, Sergio (2010): An introduction to science and technology studies. 2. ed. Chichester: Wiley-Blackwell. Online verfügbar unter http://lib.myilibrary.com?id=320473.
[3] Sørensen, Estrid (2012): Die soziale Konstruktion von Technologie (SCOT). In: Stefan Beck, Estrid Sørensen und Jörg Niewöhner (Hg.): Science and technology studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: Transcript, S. 123–144.

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